26.08.2022: Mord ohne Zeugen (Tageszeitung junge Welt)

2022-09-03 08:00:16 By : Ms. Angela Zeng

Hitler hat aus seinen Absichten nie ein Geheimnis gemacht. Drei Hauptziele trieben ihn an: erstens die Zerschlagung der Arbeiterbewegung, zweitens die Entrechtung, Ausgrenzung und letztlich Vernichtung der Jüdinnen und Juden und drittens die Eroberung großer Teile Osteuropas. Mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann sofort der Massenmord an polnischen und etwas später an den jüdischen Menschen. Die Morde wurden von der Wehrmacht und den Einsatzgruppen, bestehend sowohl aus einfachen Schutzpolizisten als auch aus Gestapo-Beamten, verübt.

Weder die Verantwortlichen der Wehrmacht noch die Leiter der hinter der Front operierenden Einsatzgruppen machten sich bis Anfang 1942 Gedanken darüber, wie die hunderttausendfachen Morde an Jüdinnen und Juden und Angehörigen der osteuropäischen Intelligenz vertuscht werden könnten. Sie waren davon überzeugt, Europa unterwerfen zu können und in Osteuropa ein riesiges Kolonialreich zu errichten.

Mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann der systematische Massenmord an der jüdischen Bevölkerung. Bereits am 19. Mai 1941, also kurz vor dem Überfall, hatte das Oberkommando der Wehrmacht den Tötungsbefehl gegeben: »Dieser Kampf verlangt rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jedes aktiven oder passiven Widerstands.«¹

In der Folge kam es an fast allen Orten zu Massenerschießungen. Karl Jäger, Kommandant einer Einheit des »Einsatzkommandos A«, schrieb am 1. Dezember 1941 in einem Bericht: »Die Durchführung solcher Aktionen ist in erster Linie eine Organisationsfrage. Der Entschluss, jeden Kreis systematisch judenfrei zu machen, erforderte eine gründliche Vorbereitung jeder einzelnen Aktion und Erkundung der herrschenden Verhältnisse in dem Kreis. Die Juden mussten an einem Ort oder an mehreren Orten gesammelt werden. Anhand der Anzahl musste der Platz für die erforderlichen Gruben ausgesucht und ausgehoben werden. Der Anmarschweg von der Sammelstelle zu den Gruben betrug durchschnittlich vier bis fünf Kilometer. Die Juden wurden in Abteilungen zu 500, in Abständen von mindestens zwei Kilometern, an den Exekutionsplatz transportiert.«²

Wehrmacht und Einsatzgruppen versuchten die Massenerschießungen der jüdischen Bevölkerung möglichst zu vertuschen, aber trotz strenger Geheimhaltung erhielten die Bürgerinnen und Bürger der Städte und Dörfer in Belarus und der Ukraine Nachricht davon. Am 19. Oktober 1941 notierte Propagandaminister Joseph Goebbels in seinem Tagebuch: »Mauer berichtet über riesige Judenerschießungen in der Ukraine. Er fordert dringend Aufklärungsmaterial für die ukrainische Bevölkerung an, da sie zum Teil das scharfe Vorgehen gegen den Juden nicht versteht.«³

Ein weiterer Massenmörder war der Architekt Paul Blobel. Er wurde beim Einmarsch in die Sowjetunion Kommandant des »Sonderkommandos 4a« der »Einsatzgruppe C«, die im Rücken der Heeresgruppe Süd eingesetzt war. Bis zum Januar 1942 ermordete das »Sonderkommando« unter der Führung Blobels mehr als 60.000 Menschen. Allein 30.000 Jüdinnen und Juden ermordete die Einheit am 29. und 30. September in der Schlucht von Babi Jar (ukrainisch: Babyn Jar) bei Kiew, es war das größte Massaker des Zweiten Weltkriegs. Mitte Dezember 1941 verübte das »Sonderkommando 4a« in Charkow ein weiteres Massaker an der dortigen jüdischen Bevölkerung. Bis heute ist die genaue Zahl der ermordeten Menschen nicht bekannt. Historiker gehen heute von 15.000 Toten aus.

Noch während Angehörige des »Sonderkommandos« zusammen mit Soldaten der Wehrmacht im Januar 1942 versuchten, die Spuren des Massakers von Charkow zu verwischen, wurde Paul Blobel durch das von Reinhard Heydrich geleitete Reichssicherheitshauptamt (RSHA) von seinem Posten entbunden. Es dauerte aber noch zwei weitere Monate, bis Blobel schließlich am 24. März 1942 den Befehl über das »Sonderkommando 4a« an seinen Nachfolger Erwin Weinmann übergab. Am nächsten Tag wurde Blobel von seinem persönlichen Fahrer Julius Bauer nach Warschau ins Gästehaus des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD) gebracht, wo er mit Heydrich zusammentraf. Mit großer Wahrscheinlichkeit erhielt er bei diesem Gespräch die Anweisungen für seine zukünftige Aufgabe.

Offiziell sollte Blobel im Anschluss den SD-Abschnitt Nürnberg übernehmen. Aber das war nur Tarnung. Blobel war bis 1945 so gut wie nie in Nürnberg und übernahm dort auch nicht die Führung des SD. Vielmehr wurde er Leiter der »Aktion 1005«. Mit seiner Einheit sollte er die Spuren des Massenmords in Osteuropa vertuschen.

Von Warschau aus fuhr Blobel nach Berlin. Sein Fahrer Bauer gab im Juli 1963 in einem Verhör der Staatsanwaltschaft Hamburg an, dass Blobel ihm während der Fahrt gesagt habe, »dass er von Heydrich eine neue Aufgabe erhalten habe, die direkt auf einen Befehl Hitlers zurückgehe«.⁴ Die Aufgabe bestand darin, die zuvor angelegten Massengräber zu identifizieren, die Leichen auszugraben, sie zu verbrennen und das Gelände neu zu bepflanzen. »Enterdung« war der offizielle Terminus der Naziverwaltung für den Vorgang. Die Bezeichnung »Aktion 1005« geht auf das Aktenzeichen eines Briefes zurück, den der Leiter der Gestapo Heinrich Müller an Martin Luther, einen Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, geschickt hat. Luther war auch einer der ausgesuchten Teilnehmer der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942, bei der die Organisation des Holocaust en détail besprochen worden war. Um das Vorhaben, mit dem Blobel betraut worden war, zu verschleiern, wurden sämtliche Schreiben zu dieser Angelegenheit unter dem Kürzel »1005« geführt.

Nach einem kurzen Urlaub bei seiner Familie traf Blobel noch im April 1942 in Berlin ein, wo er Gespräche mit Adolf Eichmann führte. Nur wenige Tage später begab sich Eichmann auf eine Besichtigungsreise in den Osten und besuchte auf Befehl Heydrichs mehrere Konzentrations- und Vernichtungslager.

Mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen am 1. September 1939 wurden die faschistischen Pläne zur »Germanisierung des Ostens« umgesetzt. Das besetzte Land wurde aufgeteilt in den sogenannten Reichsgau Wartheland, auch »Warthegau« genannt, und das Generalgouvernement. Der westlich gelegene »Warthegau« sollte ein Teil des Deutschen Reichs werden, während die Bevölkerung im Generalgouvernement, zu dem auch Warschau und Krakow zählten, langfristig das Leben von Arbeitssklaven führen sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, organisierte die Naziverwaltung riesige Umsiedlungen. Sogenannte deutschstämmige Gruppen wurden zu Hunderttausenden in das Gebiet des »Warthegaus« verbracht. Parallel dazu wurden Polen ins Generalgouvernement deportiert. Zahlreiche Orte im »Warthegau« wurden im Rahmen der »Germanisierung« umbenannt: Aus Lodz wurde Litzmannstadt, aus dem kleinen Ort Chelmno nad Nerem wurde Kulmhof am Ner. Ebendort errichtete die SS ein erstes Vernichtungslager.

Im Juli 1941 war in dem Ort ein unbewohnter kleiner Gutshof mit Park von der SS beschlagnahmt worden. Für die geplanten Morde wurden zwei Lastwagen umgebaut. Die Menschen wurden in den Laderaum gesperrt, dann wurde Gas eingeleitet, und als sich niemand mehr regte, fuhren die Autos in ein vier Kilometer entferntes Waldstück. Hier mussten Arbeitskommandos die Leichen in großen Gruben verscharren. In Kulmhof ermordeten die Nazis jüdische Menschen aus dem »Warthegau«, Angehörige der Sinti und Roma, Polen und später auch ­sowjetische Kriegsgefangene.

Zwischen Dezember 1941 und Oktober 1942 wurden hier mehr als 150.000 Menschen umgebracht. Am Anfang wurden sie noch erschossen. Herbert Lange, dem ersten Kommandanten des Vernichtungslagers Kulmhof, erschien das aber nicht effektiv genug. Bevor er Kommandant in Kulmhof wurde, hatte er bereits den Mord an den Patienten psychiatrischer Kliniken im »Warthegau« sowie in Süd- und Ostpreußen organisiert. Die Kranken waren die ersten, die in umgebauten Lastwagen ermordet wurden. Im März 1942 wurde Lange ins Reichssicherheitshauptamt nach Berlin versetzt. Sein Nachfolger in Kulmhof war Hans Bothmann.

Im Januar 1942 waren drei Häftlinge des »Todeskommandos« aus dem Vernichtungsort Kulmhof geflohen. Sie wollten die Welt über die Verbrechen der Nazis informieren. Einer von ihnen war der 1911 im südöstlich von Lublin gelegenen Izbica geborene Szlama Bar Winer. Am 12. Januar wurde er nach Kulmhof deportiert und einem »Sonderkommando« der SS zugeteilt, das die Ermordeten in großen Gruben verscharren musste. Als zwei Tage später fast 1.000 jüdische Menschen aus dem Ghetto von Izbica nach Kulmhof deportiert wurden, war auch seine Familie unter ihnen. Winer bekam mit, wie sie mittels Abgasen in Lastwagen ermordet wurden.

Auf seiner Flucht fand Winer in dem kleinen Städtchen Grabow Unterschlupf. Der Rabbiner, mit dem Winer sprach, wollte zunächst nicht glauben, was der zu berichten hatte. Als er ihn aber überzeugt hatte, schrieb dieser einen Brief an seinen Schwager im Ghetto in Litzmannstadt: »Meine Teuren, bisher habe ich eure Briefe alle nicht beantwortet, da ich selbst nichts Genaues wusste. Unglücklicherweise weiß ich inzwischen aber alles. (…) Der Ort, an dem alle umgebracht werden, heißt Chelmno. Er liegt ganz in der Nähe von Dabie. Später werden dann die Leichen im Wald von Lochow begraben.«⁵

Es gelang Winer, sich bis nach Warschau durchzuschlagen und ins Ghetto zu gelangen. Dort nahm er Kontakt mit Emanuel Ringelblum, dem Leiter der Gruppe Oneg Schabbat auf, die das geheime Archiv des Ghettos betreute. Wahrscheinlich war es Ringelblum, der Szlama Bar Winer aufforderte, einen Bericht über die Verbrechen zu verfassen. Der Bericht wurde an Kontakte des polnischen Untergrundstaats übergeben. Außerdem wurde eine deutsche Übersetzung erstellt, die ins Deutsche Reich geschmuggelt werden sollte, um die deutsche Öffentlichkeit über die Taten der Nazis zu informieren. Winer schrieb in seinem Bericht: »Aus dem Lastauto wurden die Vergasten wie Abfall auf einen Haufen geworfen. Sie wurden an den Beinen oder an den Haaren geschleppt. Oben standen zwei Männer, die die Leichen in die Grube hinunterwarfen, und in der Grube standen zwei andere Männer, die sie aufschichteten und die Leichen mit dem Gesicht zur Erde legten, so dass beim Kopf der einen die Füße der nächsten lagen. Diese Arbeit leitete ein besonderer SS-Mann, der befahl, was man tun sollte. Wenn irgendwo ein freier Platz blieb, wurde dort die Leiche eines Kindes hineingepresst. Das alles verlief sehr brutal. (…) Eine Schicht umfasste 180 bis 200 Leichen. Nach jeweils drei Autos wurden ungefähr zwanzig Totengräber eingesetzt, die die Leichen zuschütteten.«⁶ Da in Kulmhof zwei Vergasungswagen eingesetzt wurden, waren wahrscheinlich drei Fahrten gemeint.

Bald mussten die Nazis erkennen, dass sich die Morde in Kulmhof nicht länger geheimhalten ließen. Ein weiteres Problem für die SS kam im Winter 1941/1942 hinzu. Aus den Massengräbern traten Gase heraus, und immer wieder schossen Blutspritzer in die Höhe. Die Angehörigen der SS hatten Angst vor einem Typhusausbruch .

Im April 1942 reiste der Reichsführer SS Heinrich Himmler zu einer Inspektionsreise in den »Warthegau«. Hier traf er sich auch mit SS-Oberführer Herbert Mehlhorn, der die Schoah im »Warthegau« organisierte. Mehlhorn hatte schon Überlegungen angestellt, die Massengräber öffnen und die Leichen verbrennen zu lassen.

Kulmhof wurde der erste Einsatzort von Paul Blobels »Sonderkommando 1005«. Blobels Dienstsitz war im ungefähr 70 Kilometer entfernten Litzmannstadt, die Korrespondenz wurde über das Reichssicherheitshauptamt abgewickelt.

Franz Schalling, der in Kulmhof als Schutzpolizist eingesetzt war, sagte im März 1961 bei einer Befragung durch die Staatsanwaltschaft Hamburg: »Etwa im Sommer 1941 begann man damit, die Gräber zu öffnen und die Leichen zu verbrennen. In diesem Zusammenhang möchte ich eine Wahrnehmung schildern, die ich in den Sommermonaten des Jahres 1942 machte. An mehreren Stellen dieses Grabes sprudelten förmlich in dicken Strahlen Blut und eine blutähnliche Flüssigkeit hervor und bildeten in der Nähe des Grabes große Lachen.«⁷

Durch die für die Nazis immer weniger zu kontrollierende Situation an den Massengräbern geriet die Vernichtung in Kulmhof ins Stocken. Erst im September 1942 wurden wieder Deportationen aus dem Ghetto Litzmannstadt nach Kulmhof durchgeführt.

Die SS ließ die Massengräber von jüdischen Häftlingen ausheben. Sie zwangen diese, die bereits stark verwesten Leichen nach versteckten Schmuck- und Goldstücken in Vagina und Anus zu durchsuchen. Außerdem mussten sie nach Goldzähnen schauen und diese herausreißen. Die meisten der eingesetzten Häftlinge hielten die psychische Belastung nur wenige Tage aus. Nach spätestens vierzehn Tagen wurden auch sie von der SS ermordet.

Paul Blobels Auftrag war es, die Leichen zu verbrennen. Er führte immer wieder Versuche durch, um herauszufinden, wie dies möglichst schnell und effektiv durchgeführt werden könne. Am Anfang wurden die Leichen in Gruben gelegt und dann angezündet. Nachdem sich diese Methode als zu langwierig erwiesen hatte, wurden Versuche mit Flammenwerfern gemacht. Erst danach wurde über Verbrennungsöfen nachgedacht, die eigens angefertigt wurden. Diese wurden dann in allen Vernichtungslagern eingesetzt.

Von Rudolf Höß, dem Kommandanten von Auschwitz, ist bekannt, dass er im September 1942 in Kulmhof war. Er ließ sich von Blobel über dessen Erfahrung mit der Beseitigung der Leichen berichten. Noch im gleichen Monat wurden Verbrennungsöfen ähnlicher Konstruktion wie in Kulmhof nach Auschwitz geliefert und in Betrieb genommen.

1943 lag der Schwerpunkt der »Aktion 1005« in den eroberten Gebieten der Sowjetunion. Bei den Aushebungen der Massengräber in der Sowjetunion stand die Frage der Seuchengefahr nicht mehr im Vordergrund. Jetzt ging es darum, die Spuren des Massenmords zu verwischen. Blobel war als Kommandant des »Sonderkommandos 4a« bestens informiert über die Standorte der Massengräber in der Ukraine. Um noch effektiver vorgehen zu können, wurde ein zweites Kommando unter dem Namen »Sonderkommando 1005b« gebildet.

Im Laufe des Jahres 1942 weiteten sich die Planungen für den Völkermord an den Jüdinnen und Juden aus. Im Generalgouvernement wurden mehrere Vernichtungslager errichtet, die unter dem Begriff »Aktion Reinhardt« geführt wurden, gleichzeitig wurde Auschwitz von einem Arbeitslager für die deutsche Industrie zu einem Vernichtungslager erweitert. In den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka wurden bis zum Ende des Faschismus mehr als 1,5 Millionen Menschen ermordet.

Die Organisatoren der »Aktion Reinhardt« setzten sich aus vormaligen Angehörigen der »Aktion T4« zusammen, die bereits die Morde an Behinderten und psychisch kranken Menschen im Deutschen Reich organisiert hatten. Diese relative kleine Gruppe stellte den Kern der Mörder. Christian Wirth leitete in Brandenburg und in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb die Büros und koordinierte den Ablauf der Tötungen. Nachdem die »Aktion T4« im August 1941 gestoppt worden war, wurden die »Spezialisten« im Osten eingesetzt. Ende 1941 wurde Wirth Leiter des Vernichtungslagers Belzec, sechs Monate später wurde er in gleicher Funktion nach Treblinka versetzt, später war er als Generalinspekteur der »Aktion Reinhardt« für die Organisation der Morde in allen drei Vernichtungslagern verantwortlich.

Zunächst wurden auch in den Vernichtungslagern die Leichen der Opfer nur in Massengräbern verscharrt. Im Sommer 1942 sah sich die SS aber mit denselben seuchenhygienischen Problemen wie in Kulmhof konfrontiert. Die Massengräber waren so groß, dass sie teilweise wochenlang offenstanden und ständig mit neuen Leichen gefüllt wurden. Der Historiker Stephan Lehnstaedt hat sich mit den Vernichtungslagern im Rahmen der »Aktion Reinhardt« beschäftigt. Er fand heraus, dass die Lagerhäftlinge in Sobibor im Oktober 1942 und in Belzec im November 1942 die Massengräber wieder öffnen mussten und hunderttausend Leichen verbrennen mussten.⁸ Sie griffen dabei auf eine Methode zurück, die zuvor bereits von Blobel in Kulmhof erprobt worden war. Die Leichen wurden auf Eisenbahnschienen zu einem großen Scheiterhaufen gestapelt und verbrannt. Unter dem Scheiterhaufen waren Gitter angebracht, so dass die Teile der Körper, die nicht restlos verbrannt waren, aufgefangen wurden.

Im September 1944 stoppte Himmler aufgrund des Vormarsches der Roten Armee die »Aktion 1005«. Ende September 1944 wurden zahlreiche ihrer Mitglieder nach Salzburg versetzt, wo sie zur besonderen Verwendung der »Einsatzgruppe Iltis« zugeteilt wurden. Kommandant war wieder Paul Blobel. Die Einheit wurde zusammen mit vielen anderen Angehörigen der »Aktion Reinhardt« nach Italien und Slowenien versetzt, um nicht in die Hände der Roten Armee zu fallen, die im Osten immer größere Gebiete zurückeroberte.

Lange Zeit war die »Aktion 1005« auch unter Historikern weitgehend unbekannt. Erst durch die zweibändige Veröffentlichung von Andrej Angricks Monographie »Aktion 1005« hat sich der Forschungsstand grundlegend verbessert.

Paul Blobel wurde 1948 im sogenannten Einsatzgruppenprozess in Nürnberg zum Tode verurteilt und am 7. Juni 1951 in Landsberg am Lech hingerichtet. Das Urteil wurde wegen anderer Verbrechen gefällt, die Blobel als Kommandant der »Einsatzgruppe SK 4a« verübt hatte. Die »Aktion 1005« wurde in dem Verfahren nicht verhandelt.

Christian Wirth wurde bereits im Spätsommer 1943 nach Italien versetzt, um dort die Deportation der italienischen Juden zu organisieren. Partisanen erschossen ihn am 26. Mai 1944 auf der Straße von Triest nach Fiume (heute kroatisch: Rijeka). Zur »Vergeltung« plünderten die Nazis die beiden Orte Beka und Ocizia in der Nähe der slowenischen Gemeinde Hrpelje und brannten sie nieder.

1 Zit. n. Wolfram Wette: Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden, Frankfurt am Main 2011, S. 49

3 Joseph Goebbels, Tagebucheintrag v. 19.10.1941, zit. n. Holocaust-Chronologie.de, abgerufen am 3.7.2022

4 Andrej Angrick: »Aktion 1005« – Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen 1942–1954. Eine »Geheime Reichssache« im Spannungsfeld von Kriegswende und Propaganda, Göttingen 2018, S. 73

6 Zit. n. ebd., S. 78 f.

8 Vgl. Stephan Lehnstaedt: Der Kern des Holocausts. Belzec, ­Sobibor, Treblinka und die Aktion Reinhardt, München 2017

Janka Kluge war viele Jahre Landessprecherin der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) in Baden-Württemberg.

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