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Ein schöner Abend, ein laues Lüftchen, ein silbrig schimmernder Swimmingpool und ein Kaltgetränk zur Nacht. Ich war in einem spanischen Hotel, es war abends um neun, die Kinder waren im Bett. Da sah ich, wie ein Vater zeternd seiner Tochter folgte. Ohne Rücksicht auf die anderen Gäste, er war zu sehr mit seinem Kind beschäftigt, brüllte er in die Nacht: "Wenn Du das jetzt nicht aufräumst, gehst Du sofort ins Bett. Was willst Du?" Das Mädchen schrie; offensichtlich hatte es beim vorangegangenen Abendessen etwas umgeworfen und nicht aufgehoben. Als der Vater die Kleine eingeholt hatte, schlug sie mit den Armen nach ihm. "Was willst Du denn, jetzt sag es mir". Das Kind schrie nur noch lauter. Dann packte der Vater das Mädchen und verschwand in Richtung seines Hotelzimmers.
Nach zwei Minuten waren beide wieder da. Die Kleine hatte sich beruhigt, die Situation schien klar, als das Spektakel von vorne losging. Immer wieder fragend, bekam der Vater von neuem nur die Antwort: "Ich will nicht". Wütend stapfte er in Richtung Restaurant und ließ seine Tochter allein am Pool stehen. Sie machte keine Anstalten, ihm zu folgen. Nach fünf Minuten kam der Vater wieder und stellte die gleiche Frage. Was für ein erbärmliches Schauspiel. Fast wäre ich aufgesprungen: das Mädchen war müde nach acht Stunden am Strand und dem langen Sitzen im Restaurant. Nach geschätzten zwanzig Minuten jedenfalls kehrte Ruhe ein und die Kleine war eingeschlafen. Sie wird nicht daran interessiert gewesen sein, ihren Vater zu beherrschen. Vielmehr daran, dass er sie versteht und tröstet. Als er dies endlich begriffen hatte, wird sie sich erlöst gefühlt haben.
Man sitzt da und fragt sich, warum der Vater seiner Tochter mit der immer wiederkehrenden Frage in ein Dilemma stürzt. Sich nicht auf ihre Seite schlägt, weil sie offensichtlich nicht in der Lage ist, ihre Bedürfnis zu benennen. Kinder wissen oft, was sie wollen; aber nicht immer, was sie brauchen. Dafür gibt es Eltern. Das ist ihr Job. Wer sein Kind kennt, muss nicht ständig Anweisungen wiederholen. Und seinem Kind Freiheiten zumuten, zu denen es noch nicht bereit ist. Eltern haften für ihre Kinder. Nicht umgekehrt.
Es tut gut zu wissen, wo es lang geht. Nicht wankelmütig zu sein und Entscheidungen zu fällen. Befreiend ist das. Viele Eltern aber kennen den Weg nicht mehr. Die Kinder würden gerne folgen, kommen aber nicht hinterher. Ihre Eltern bieten keine Orientierung. Sie bieten Gespräche. Wer hat ihnen eingeredet, immer und überall diskutieren zu sollen? Ihren Kindern mit Sätzen zu begegnen, nicht mit Gesten? Ist es wichtig, Kinder kurz vorm Schlafengehen noch mit Fragen nach ihrer Befindlichkeit zu malträtieren? Und ihnen noch mit Worten wie "Vernunft" zu kommen? Müssen sie immer wissen, wie es ihren Kindern geht? Was die Kleinen fühlen und denken? "Wir Eltern befinden uns in einer ständigen Unruhe in Bezug auf unsere Kinder", sagt der Hannoveraner Psychologe Wolfgang Bergmann. "Wir ertragen es nicht, wenn sie irgendeine Art von Unzufriedenheit äußern. Wir möchten alles Gute für sie, und wir möchten es im Übermaß. Und genau dies tut Kindern nicht gut."
Wie sollen Kinder anders als durch Schreien und Zetern kundtun, dass die Eltern ihrer Aufgabe gerade nicht nachkommen? "Starke Väter und starke Mütter sind notwendiger als je zuvor", sagt Wolfgang Bergmann. "Sie dürfen sich nicht selbst abschaffen, weil sie meinen, mit ihren Kindern auf Augenhöhe sein zu müssen." Vielleicht gab es mal eine Zeit, in der sich Kinder wünschten, auch eines Tages erwachsen zu sein. Weil Vater und Mutter die Dinge im Griff hatten. Und sie mit Fragen ihn Ruhe ließen: Sag mal, was glaubst du, was jetzt gut für dich wäre?
Warum fürchten Eltern heute die Auseinandersetzung? Die Dinge laufen nicht immer glatt. Warum vermeiden sie Konflikte? Haben sie Angst vor Liebesentzug, wenn sie mal strenger sind zu ihren Kindern? Eltern werden verlässlich, wenn sie nicht vor den Schwierigkeiten ihrer Kinder zurückschrecken. Selbst wenn sie ungeduldig sind und laut werden. "Kinder finden Halt nur an einem Gegenüber, an dem sie ihre Konflikte, ihre inneren Spannungen bewusst erleben können", schreibt Psychologe Wolfgang Bergmann in seinem Buch "Die gute Autorität". "Der Konflikt oder das Problem zerfließt und ergießt sich sozusagen in die unfertigen kindlichen Seelen. Und so, wie früher unangemessene Strafen Kinderseelen beschädigten, so beschädigen heute die zerfließenden, nicht ausgehaltenen Konflikte die Seelen unserer Kinder."
Ach, wie schön ist "Basta"-Land. Einfach nein sagen, ab ins Bett und ruh' dich aus. Kein Fernsehen mehr, kein Computer, morgen ist wieder Schule: schlaf gut! Nicht Kinder, Eltern brauchen Grenzen. Kinder wollen alles und zwar sofort, das Leben ist bunt, die Welt groß und mit so etwas wie Vernunft können sie überhaupt nichts anfangen. Eltern haben die Aufgabe, sich und ihren Kinder Respekt beizubringen. Das lateinische "Respectus" bedeutet so viel wie "zurückschauen, Rücksicht, berücksichtigen": Es beschreibt, was Eltern zu tun haben. Eltern sind ihren Kindern um Jahre voraus, sie haben mehr erlebt und viel erfahren. Kinder müssen sich nicht jeden Tag die Finger verbrennen, um zu merken, dass die Herdplatte heiß ist. Sie erwarten Anweisungen. Sie erwarten, dass Vater und Mutter der Verantwortung, die sie bei der Geburt ihres Kindes eingegangen sind, auch gerecht werden. Dass sie um die Balance wissen, zwischen Festhalten und Loslassen.
Es ist nicht die Aufgabe der Kinder, ihre Eltern zufriedenzustellen. Sie glücklich zu machen. Sie sind auch nicht auf der Welt, schlechte Launen zu kompensieren, weil Vater oder Mutter schlecht drauf sind. Kinder sind keine Fußmatten, an denen man Dreck abklopft. Eltern brauchen Grenzen: Statt Kinder zu ermahnen, die Lebenswelt der Erwachsenen ernst zu nehmen, sollten Eltern auf die Realität ihrer Kinder achten. Sie muten ihnen viel zu. Kinder müssen mit ins quälend lange "Weihnachtsoratorium" (wo sich mittlerweile auch Herrchen mit Hunden, die unangemessen oft knurren, tummeln). Zur abendlichen Verabredung ins Restaurant. Oder zum Yoga-Kurs des Vaters. Um Vertrauen zu lernen, braucht es keinen Ratgeber wie das "Dalai-Lama-Prinzip für Eltern ", das Meditation "auf dem Spielplatz, im Haushalt, beim Warten an der Bushaltestelle, auf dem Weg zur Arbeit oder zur Kinderkrippe" empfiehlt. Babies sollten mit Shiatsu-Streicheln willkommen geheißen werden und Akupressur helfen, "Situationen gelassen anzunehmen". Aus Kinder werden "spirituelle Lehrer" und elterliche Therapeuten, wenn Buddha mal auf Fahrt ist. Aber vielleicht sind Kinder nur helle - und nicht erleuchtet. Und singen lieber mit den Hamburger Spaßrappern der Gruppe Fünf Sterne Deluxe: "Wir waren im Nirwana, da war es proppenvoll, wir waren im Nirwana - gar nicht so toll".
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